Gorzów Wielkopolski, so heißt die Stadt in der polnischen Woiwodschaft Lebus. Die Allee in Berlin, die von der Mitte der Stadt aus gesehen in jene Richtung weist, heißt jedoch nicht Gorzówwielkopolskiallee. Nein, es ist die Landsberger Allee. So ist Geschichte halt. Geschichten warten auch am Ende dieser langen, sehr langen Straße, die in eine beschauliche Siedlung mündet, welche wiederum einst ein Sumpfgebiet war. Wikipedia klärt auf: Der Dorfname stamme von slawisch marcana = Sumpf ab, also „Siedlung bei einem Sumpfgebiet“. Viele jüngere Geschichten betonen jedoch, dass es vor dem Bau von Europas größter Plattenbausiedlung dort eigentlich hauptsächlich sandig gewesen wäre. Auf dieser Sandwüste ist Marzahn entstanden und dort bin ich mit dem Fahrrad über die Landsberger Allee hingefahren. Zu Beginn hat es auch noch nicht geregnet.
Anlass dieser Tour war ein Buch. Und wenn Bücher es schaffen, sich in Bewegung zu setzen, was will man mehr. Die Autorin Katja Oskamp erzählt in jenem Band, 142 Seiten, broschiert bei Suhrkamp, gebunden bei Hanser, von ihren Begegnungen mit Kunden und Kundinnen, deren Füße einer fachlichen Behandlung bedürfen. Sie erzählt ganz wunderbare Lebensgeschichten aus Sicht einer Fußpflegerin und der Salon, indem sich das alles abspielt, der befindet sich im Erdgeschoss eines 18-Geschossers in Marzahn. Wie Literatur es will, es muss ja nicht stimmen, es könnten ja auch nur 17 Geschosse gewesen sein und im Erzählband „Marzahn, mon amour“ war auch von einem Hundesalon um die Ecke die Rede. Auch von blühenden Kirschbäumen, von Winden, die um die Ecke fegen und von vielen Menschen wie Tiffy, Frau Guse, Herrn Hübner und Frau Blumeier.
Vorab berichtet, die Damen und Herren habe ich allesamt nicht kennengelernt, das Kosmetikstudio für Naturnagelpflege und Nagelmodellage plus Fußpflege hatte auch geschlossen, ich war an einem Sonntag im Mai im schönen Marzahn. Dennoch stimmte einfach alles, es blühte zauberhaft, es windete erheblich und es waren 18 Geschosse, der Hundesalon heißt Buffy.
Nach Marzahn hinzukommen, ist nicht einfach, wieder zurück nur etwas für kundige Kenner der örtlichen Hauptverkehrswege. Man kann es überleben, man muss es nicht. Vom Platz der Vereinten Nationen in Berlin-Friedrichshain, ehemals Leninplatz mit dem großen Denkmal, das 1991 demontiert wurde (den Kopf gibt es wieder, der Rest liegt begraben), führt die besagte Landsberger Allee gen Marzahn. Vorbei am Friedrichshain, dem Vivantes Klinikum und einem Hotel, welches erstaunlicherweise Hotel NH Alexanderplatz heißt, obgleich dieser weit weit weg ist. Ich fahre an dem Trauerspiel des SEZ, ehemals Spaß- und Erholungsbad - jetzt eine langjährige Bauruine - vorbei, dann REWE, Burger King, das unsichtbare Velodrom, gesäumt von Plattenbauten bis zum nächsten Hotel, das dieses Mal City Hotel Berlin City heißt. Je weiter ich mich vom Zentrum entferne, desto mehr City, dennoch geht es weiter, immer weiter. Netto, Hermes, aber auch die sehenswerten historischen Wasserwerke, dann Möbel Höffner, IKEA und am Horizont grüßt eine Pyramide, ein weiteres untrügliches Zeichen für Zentrum. Total Tankstelle, wieder Netto, dann das ORWOhaus, der größte selbstverwaltete Proberaumkomplex Europas! Es kann nicht mehr weit sein zur größten Plattenbausiedlung Europas. Jetzt jedoch endet der Fahrradweg. Die Landsberger Allee teilt sich in zwei alles verschlingende Arme, zumindest für die, die mit den Füßen, also per pedes, mit Pedalen unterwegs sind. Es gibt verschiedene Abfahrten von dieser gewaltigen Überbrückung hin zu jener Insel, die einst Sumpf, dann Sand und jetzt ganz Platte ist. Wer dies schafft, wird allerdings belohnt. Es blühen die Kirschbäume.
Auf dem Rückweg begann es stark zu regnen, ich wählte die falsche Auffahrt hinüber in die rettende Talsohle Berlins, wurde von donnernden und wasserspritzenden Lastern reihenweise überholt, war bis auf die Haut durchnässt und eingesaut, aber im Herzen glücklich. Der Fußpflegesalon ward gefunden, die Insel der hohen Häuser waren irgendwie auch schön, die Fotos in der Kiste, die Social Media Arbeit für die Lesekampagne „Berlin liest ein Buch“ hatte genügend Futter und ich war um eine Erfahrung reicher. Bald betreuen wir ein weiteres Projekt in Marzahn. Ich werde wieder mit dem Fahrrad fahren.
[S.H.]